ESG und Stresstesting - ein schematischer Ansatz

Foto von Daniel Malikyar auf Unsplash , abgerufen am 24.07.24

 

Eines der größten Themen der vergangenen Jahre ist die Integration von ESG-Aspekten in die Prozesse und Aktivitäten von Kreditinstituten, wozu Finbridge sich bereits in mehreren Veröffentlichungen geäußert hat (hier oder hier). Neben einer Berücksichtigung von ESG-Aspekten bspw. bei der Kreditvergabe ist ebenfalls eine angemessene Berücksichtigung in das Risikomanagement gefordert. Zu nennen ist hier bspw. die Konsultationsfassung der EBA-Leitlinien zum Management von ESG-Risiken (EBA/CP/2024/02) oder die Aufnahme von ESG-Risiken in die Mindestanforderungen an das Risikomanagement im Rahmen der 7.ten MaRisk Novelle.

Über die genannten Leitlinien in dem Konsultationsdokument der EBA wird, neben anderen Aspekten, auch eine Berücksichtigung von ESG-Risiken in die von Instituten durchzuführenden Stresstests gefordert. Referenziert wird hierbei auf die EBA-Leitlinien zu Stresstests für Institute (EBA/GL/2018/04), welche vor diesem Hintergrund ebenfalls überarbeitet werden sollen.[1]

Auf Basis gesammelter Projekterfahrung und Austausch mit Marktteilnehmern soll im nachfolgenden Beitrag dargelegt werden, wie Institute anhand von bereits vorhandenen Informationen strukturiert ESG-Szenarien im Rahmen ihres Stresstestings berücksichtigen können und welche Standards sich hier etablieren. Aussagen zu einer möglichen Datenarchitektur im Bereich ESG sollen hierbei explizit ausgeklammert werden. Institute befinden sich derzeit im Aufbau von entsprechenden Architekturen bzw. haben diesen schon abgeschlossen. Aufgrund der damit verbundenen Heterogenität und des Umfangs dieses Themas soll dieser Aspekt daher nicht im Fokus des vorliegenden Beitrags sein. Für die vorstehenden Darstellungen wird die Annahme getroffen, dass alle notwendigen Daten in einer zentralen Datenbank vorliegen. Obwohl der Regulator zuletzt auch die Themenbereiche S(ocial) und G(overnance) mit erhöhtem Fokus ausstattet, wird sich in diesem Artikel auf den Bereich E(nvironmental) konzentriert, da sich gerade hier erste Marktstandards etablieren.

ESG im Risikomanagement und der Banksteuerung

Gem. der Konsultationsfassung der EBA-Leitlinien zum Management von ESG-Risiken (EBA/CP/2024/02) sowie von weiteren Veröffentlichungen der EBA (bspw. EBA Report zu ESG Risikomanagement und Überwachung; EBA/REP/2021/18) existieren drei verschiedene Prinzipien zur Identifikation und Bewertung von ESG-Risiken:

  • Exposure-basiert[2]

    Überwachung und Bewertung des Exposures anhand von ESG-Aspekten, wie bspw. ESG-Ratings.

  • Portfolio-basiert[3]

    Verwendung einer Portfolio Alignment Methode; d.h. Abgleich von Portfolien mit Vergleichsportfolien zur Erreichung der Klimaziele.

  • Szenario-basiert[4]

    Auch Risk Framework Methode genannt; Betrachtung der Auswirkungen von physischen und transitorischen Risiken und deren Auswirkungen auf Basis von Stressszenarien.

Wie bereits eingangs dargestellt, soll der Fokus im Weiteren auf das Stresstesting gelegt werden. Hierbei handelt es sich um eine Szenario-basierte Messmethode. Die Konsultationsfassung der EBA-Leitlinien verweist in der bereits genannten Textziffer 39 perspektivisch auf Anpassungen in den EBA-Leitlinien zu Stresstests für Institute.

Damit Institute ein zielgerichtetes Stresstesting durchführen können, muss sichergestellt sein, dass ESG-Aspekte in allen Bestandteilen des ICAAP angemessen und konsistent erfasst sind. Dies beginnt bei einer präzisen Identifikation von ESG-Aspekten im Rahmen der Risikoinventur, dem Festlegen von Schwellenwerten im Rahmen des Risikoappetits sowie der anschließenden Messung und dem Reporting ergänzt um das Stresstesting. Diese Aspekte werden von der EBA im Rahmen der Konsultationsfassung der Leitlinien in Kapitel 5.5 ausführlich dargestellt.

Neben diesen Aspekten, welche sich eher auf die Risikomessung von ESG-Aspekten fokussieren, existieren darüber hinaus noch weitere Anforderungen mit dem Fokus auf ESG-Thematiken. Zu nennen sind hier bspw.:

  • EU-Taxonomie

  • Offenlegungsanforderungen, wie etwa die Green Asset Ratio

Zusammenfassend existiert somit eine Vielzahl an verschiedene Anforderungen an Kreditinstitute, welche sich auf verschiedene Aspekte fokussieren. Hierbei geht es von der Kreditvergabe und Kundengruppen über strategische Fragestellungen bis hin zum Risikomanagement. Insbesondere mit dem Blick auf die EU-Taxonomie sowie die Green Asset Ratio sind Institute dazu angehalten neue Datenhaushalte aufzubauen, um eine angemessene Erfüllung der Anforderung sicherzustellen. Darüber hinaus sind Anpassungen an Prozessen vorzunehmen, bspw. bei der Kreditvergabe, zur Sicherstellung, dass bereits bei Geschäftsabschluss alle notwendigen Daten erfasst werden.

NGFS-Szenarien

Bevor auf den methodischen Ansatz zur Übersetzung von ESG-Szenarien in das Stresstesting eingegangen wird, soll zunächst eine Option zur Beschaffung von ESG-Szenarien dargestellt werden.

Abbildung 1: Szenarien der NGFS (Quelle: in Anlehnung an: https://www.ngfs.net/ngfs-scenarios-portal/)

Ausgangsbasis sind Szenarien, welche vom sog. Network of Central Banks and Supervisors for Greening the Financial System (NGFS) entwickelt werden. Das NGFS ist mit der Zielsetzung etabliert worden, die Umsetzung der Vorgaben aus dem Pariser One Planet Summit von 2017 zu unterstützen und die Rolle, die das Finanzsystem hierbei einnimmt zu verbessern. Hierzu werden über das NGFS Standards und Best Practice-Ansätze definiert.[5]

Im Rahmen dieser Arbeiten, betrachtet das NGFS ebenfalls verschiedene Klimaszenarien und deren Auswirkungen auf makroökonomische Faktoren sowie transitorische und physische Effekte, die mit den Szenarien einhergehen. Grundsätzlich verwendet das NGFS eine vier Felder Matrix, wie in Abbildung 1 dargestellt. Wobei die X-Achse physische Risiken und die Y-Achse transitorische Risiken darstellen. Die Matrix gliedert sich in die nachfolgend aufgeführten vier Felder:

  • Orderly

    Beinhaltet die Annahme, dass Gesetze zeitnah und stringent umgesetzt werden, was zwar zu schlagend werdenden physischen und transitorisch Risiken führt, jedoch in einer abgeschwächten Form.

  • Disorderly

    Beinhaltet die Annahme, dass Gesetze verspätet und wenig stringent umgesetzt werden, was zu höheren schlagend werdenden transitorischen Risiken führt, jedoch nur abgeschwächte physische Risiken beinhaltet.

  • Hot house world

    Beinhaltet die Annahme, dass Gesetze in einzelnen Jurisdiktionen umgesetzt werden, die globalen Anstrengungen, um die Erderwärmung aufzuhalten, jedoch zu gering sind. Dies führt zu hohen schlagend werdenden physischen Risiken und geringen transitorischen Risiken. Das Szenario beinhaltet die Annahme, dass kritische Temperaturgrenzen gerissen werden und die Meeresspiegel unwiderruflich ansteigen.

  • Too little, too late

    Beinhaltet die Annahme, dass Gesetze viel zu spät und nicht einheitlich umgesetzt werden, was zu hohen schlagend werdenden physischen und transitorischen Risiken führt.

In jedem der vier Felder existieren unterschiedliche Szenarien, welche jeweils mit einem Parameterset verknüpft sind. Die Parameter werden auf Basis unterschiedlicher Modelle geschätzt.[6] Ein Parameter, welcher von Instituten beispielsweise für das Stresstesting verwendet werden könnte, ist die Entwicklung des CO2-Preises. Beispielhaft soll dies für das Szenario „Fragmented World“, welches das einzige Szenario des Feldes „Too little, too late“ ist, dargestellt werden. Das Narrativ des Szenarios ist, dass Länder einerseits Maßnahmen zu spät implementieren („too late) und andererseits Maßnahmen nicht konsistent zueinander oder mit zu geringem Umfang umgesetzt werden („too little“). Für die Entwicklung des CO2-Preises liefern die Modelle folgende Schätzungen:

Tabelle 1: Entwicklung des weltweiten CO2-Preises für das Szenario "fragmented world"
(Quelle: https://data.ene.iiasa.ac.at/ngfs/#/workspaces)

Hierbei sind verschiedene Modelle mit individuellen Zielsetzungen zu unterscheiden, welche unterschiedliche Methodiken anwenden. Hieraus ergeben sich insbesondere auch unterschiedliche Ergebnisse.

  • GCAM 6.0 NGFS

    Bei GCAM handelt es sich um ein global integriertes Bewertungsmodell, welches Verhalten von und Wechselwirkungen zwischen fünf Systemen darstellt: Energiesystem, Wasser, Landwirtschaft sowie Landnutzung, Wirtschaft und Klima.

  • MESSAGEix-GLOBIOM 1.1-M-R12

    Bei MESSAGEix-GLOBIOM handelt es sich ebenfalls um ein integriertes Bewertungsmodell, welches die Transformation der Energie- und Landsysteme vor dem Hinblick des Klimawandels betrachtet. Hierbei werden unterschiedliche weitere Teilmodelle verwendet.

  • REMIND

  • Bei REMIND handelt es sich um ein globales multiregionales Modell, welches eine detaillierte Darstellung des Energiesektors umfasst und die Analyse von Lösungsansätzen erlaubt.[7]

Somit werden durch das NGFS für das eine Szenario „fragmented world“ drei verschiedene CO2-Preisentwicklungen geliefert, welche in Abhängigkeit des gewählten Modells weiterverwendet werden können. Erfahrungen haben gezeigt, dass verschiedene Häuser diese Szenarien als Grundlage zum ESG-Stresstesting verwenden. Hierzu ist jedoch eine Identifikation der Wirkungsketten und Übersetzung der Szenarien in Eingangsgrößen für das Stresstesting notwendig. Für das Beispiel des CO2-Preises bedeutet dies, dass eine Ableitung der Auswirkungen des Anstiegs auf Risikoparameter innerhalb des zu betrachtenden Instituts erfolgen muss.

Übersetzung von NGFS-Szenarien für das Stresstesting

Wie dargestellt, beinhalten die NGFS-Szenarien quantitative Information zur Entwicklung von makroökonomischen Größen sowie transitorischen und physischen Effekten. Für das Stresstesting müssen diese nun in berücksichtigungsfähige Risikoparameter übersetzt werden. Existieren für makroökonomische Größen häufig bereits Modelle und Vorgehensweisen, welche bspw. die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts betrachten und Auswirkungen auf Ausfallwahrscheinlichkeiten herleiten, müssen diese für transitorische oder physische Effekte erst entwickelt werden.

Das Vorgehensmodell zur Übersetzung der NGFS-Szenarien sieht anschließend verschiedene Ansätze vor, welche bzgl. der Granularität abgestuft sind, wie in nachfolgender Abbildung dargestellt.

Abbildung 2: Darstellung der verschiedenen Granularitätsstufen

Grundsätzlich lassen sich unterschiedliche Granularitätsstufen der Übersetzung identifizieren:

  • Portfolio-Ebene

    Pauschale Anwendung von Shifts der Risikoparameter auf Basis des zugrundeliegenden Szenarios auf das gesamte Portfolio

  • Segment-Ebene

    Identifikation der betroffenen Segmente und Shifts der Risikoparameter auf Basis des zugrundeliegenden Szenarios in diesen Segmenten

  • Segment+

    Überprüfung der „Do no significant harm“-Kriterien in den identifizierten Segmenten und in Abhängigkeit davon Shifts der Risikoparameter

Zur Identifikation der Shifts von Risikoparametern basierend auf den NGFS-Szenarios, wie bspw. eine Veränderung der Ausfallwahrscheinlichkeit ist jedoch initial die Identifikation von Wirkungsketten notwendig. Hierbei kann auf die Informationen aus der Risikoinventur aufgesetzt werden.

ESG in der Risikoinventur

Im Rahmen der Risikoinventur ist der Einfluss von ESG-Risiken auf die (wesentlichen) Risikoarten angemessen und explizit einzubeziehen (vgl. auch MaRisk AT 2.2). Dabei werden ESG-Risiken als Risikotreiber über alle Risikokategorien und damit als Querschnittsrisiko verstanden. Um die Auswirkungen von ESG-Risiken zu identifizieren und wesentliche Risiken zu identifizieren, können auch hier verschiedene Szenarien, wie die schon genannten NGFS-Szenarien vor einem angemessen langen Zeithorizont bspw. bis in das Jahr 2050 sein. Ziel ist es dabei eine qualitative und quantitative Bewertung des Impacts der ESG-Risiken aufzustellen.

Abbildung 3: Schematisches Vorgehen zur Berücksichtigung von ESG-Aspekten in der Risikoinventur

Die Basis für die Identifikation der Wirkungsketten bilden dabei die Transitorischen und physischen ESG-Risiken. Anhand dieser werden konkrete auf das Institut zugeschnittene Beispielszenarien abgleitet um die Wirkungsketten auf die (wesentlichen) Risiken zu analysieren. Für jedes Beispielszenario müssen nun die betroffenen Risikofaktoren identifiziert werden. Um eine quantitative Analyse auf die betroffenen Risikofaktoren durchzuführen, kann nun auf die NGFS-Daten wie beispielsweise der Einfluss auf das BIP oder den CO2-Preis sowie ESG-Branchenscores zurückgegriffen werden.

Beispiel: Entwicklung des CO2-Preises

Auf Basis der so identifizierten Wirkungsketten lassen sich nun die Effekte auf das Risiko eines Kreditinstituts herleiten. Dies soll nachfolgend weiterhin für die Entwicklung des CO2-Preises als Beispiel erfolgen. Es wird die Annahme getroffen, dass in der Risikoinventur identifiziert wurde, dass sich ein Anstieg des CO2-Preises negativ auf die Ausfallwahrscheinlichkeiten sowie Ratings von Kreditnehmern auswirken kann.[8] Dies begründet sich in gestiegenen Aufwänden bei einem Anstieg des CO2-Preises sowie damit einhergehend einem reduzierten Ertrag. Für die unterschiedlichen Granularitätsstufen wird nachfolgend das Vorgehen im Rahmen des Stresstestings dargestellt.

Abbildung 4: Darstellung der verschiedenen Granularitätsstufen für einen Anstieg des CO2-Preises

Die Kapitaleffekte unter Berücksichtigung des Vorgehensmodells sollen anhand eines Beispielportfolios betrachtet werden.

Tabelle 2: Beispielportfolio für die weitere Betrachtung

Das Beispielportfolio besteht in Summe aus vier Kreditnehmern, welche drei Segmenten zugeordnet sind. Das Kreditvolumen sowie die PDs sind identisch; mögliche Sicherheiten sind nicht vorhanden. In Summe hat das Portfolio in dem vorliegenden Basisszenario einen Expected Loss von 400.000 Euro. In den folgenden Beispielrechnungen wird davon ausgegangen, dass es einen instantanen CO2-Preisanstieg gibt, welcher sofort zu Veränderungen in den Risikoparametern führt. Im Rahmen eines angemessenen Stresstestings müsste jedoch die Entwicklung des CO2-Preises im Zeitverlauf betrachtet werden und für verschiedene Zeitpunkte Migrationsmatrizen oder Shifts hergeleitet werden.

Portfolio-Ebene

Auf Basis eines CO2-Preisanstiegs kann eine Migrationsmatrix für Ratingklassen oder ein direkter Shift von Ausfallwahrscheinlichkeiten hergleitet werden. Dieser würde auf Ebene des Portfolios homogen auf das gesamte Portfolio des Instituts angewendet werden. Diese sehr pauschale Vorgehensweise geht zwar mit geringen Aufwänden einher, würde jedoch zu hohen Kapitaleffekten im Stressfall führen und wäre wenig institutsspezifisch.

Basierend auf den in Abbildung 2 dargestellten Shifts würde dies für das Beispielportfolio zu folgenden Effekten führen:

Tabelle 3: Beispielportfolio im Stress auf Portfolio-Ebene

Alle PDs würden um 7,5 Prozentpunkte erhöht werden. Bei Gleichbleiben der sonstigen Parameter führt dies in diesem sehr pauschalen Stressszenario zu einem Anstieg des Expected Loss auf 700.000 Euro.

Segment-Ebene

Zur Schaffung von höherer Granularität und einer institutsangemesseneren Betrachtung, kann auf der folgenden Granularitätsebene eine Identifikation von Segmenten erfolgen, die insb. von einem Anstieg des CO2-Preises betroffen sind. Dies kann zunächst unabhängig von den einzelnen Kreditnehmern des Instituts erfolgen. Es können bspw. die Segmente auf Basis der EU-Taxonomie identifiziert werden, welche von einem CO2-Preisanstieg betroffen sind und für diese eine segmentspezifische Festlegung von Ratingshifts oder Shifts der Ausfallwahrscheinlichkeit vorgenommen werden. Hierbei kann noch einmal auf Basis verschiedener Ansätze differenziert werden:

  • Option a): Nur Identifikation von Segmenten die explizit von einem Anstieg des CO2-Preises betroffen sind und homogenes shiften der Parameter in diesen Segmenten.

  • Option b): Einstufung eines jeden Segments bzgl. der Auswirkungen eines Anstiegs des CO2-Preises (bspw. in Klassen von hoch, mittel und gering) und Definition von Shifts der Parameter für jede der Klassen.

Auf Basis der den Kreditnehmern im Kreditprozess zugeordneten Segmenten kann anschließend das Stresstesting erfolgen, in dem die mit den Segmenten korrespondierenden Shifts verwendet werden.

Das Vorgehen hat den Vorteil, dass einerseits die Spezifika des Portfolios des Instituts genauer berücksichtigt werden, was zwar höhere Aufwände mit sich bringt, jedoch aber auch zu einer geringeren Kapitalauslastung in dem betrachteten Stressszenario führt. Die reine Klassifizierung der Segmente kann jedoch ressourcenschonend mit den Marktbereichen durchgeführt werden, da diese die dafür notwendigen Informationen im Rahmen des Kreditvergabeprozesses bereits betrachtet haben sollten. Hierbei ist zu beachten, dass auch ein simpler Ansatz unter Verwendung von Verhältnisskalen (Sektor A ist stärker betroffen als Sektor B) ausreichend sein kann.

Basierend auf den in Abbildung 3 dargestellten Shifts würde dies unter Berücksichtigung der Option b) für das Beispielportfolio zu folgenden Effekten führen:

Tabelle 4: Beispielportfolio im Stress auf Segment-Ebene

Das Segment 1 wurde als Segment identifiziert, auf das ein Anstieg des CO2-Preises eine hohe Auswirkung hat. Es wurde die Annahme getroffen, dass dies mit einem Anstieg der PDs um 7,5 Prozentpunkte verbunden ist. Ist ein Segment nur gering von einem Anstieg des CO2-Preises betroffen, werden die PDs um 2,5 Prozentpunkte verschoben; ein mittelstark betroffenes Segment erhält einen Shift von 5 Prozentpunkte bei der PD. Dies führt in Summe zu einem Expected Loss in dem Stressszenario von 625.000 Euro. Hierbei zeigt sich bereits, dass mit einer detaillierteren Betrachtung der Expected Loss Anstieg im Vergleich zur Portfolio Betrachtung halbiert wird.

Segment+-Ebene

Das Segment+ ist die unterste Granularitätsebene und betrachtet die Kreditnehmer in den einzelnen Segmenten. Zielsetzung hierbei ist es, mögliche Widersprüche innerhalb der Segmente zu eliminieren. Bspw. kann ein Segment auf übergreifender Ebene stark vom Anstieg des CO2-Preises betroffen sein, jedoch einzelne, dem Segment zugeordnete Kreditnehmer aufgrund ihres Geschäftsmodells, nur wenig.

Aufsatzpunkt kann die Identifikation von Segmenten sein, welche am stärksten von einem CO2-Preisanstieg betroffen sind, sowie Informationen aus dem Kreditvergabeprozess. Die Technical Expert Group der EU hat in einem Anhangdokument zur EU-Taxonomie weitere Informationen veröffentlicht.[9] Hierbei wird für jedes Segment ebenfalls die Fragestellung nach dem sog. „do no significant harm“ (DNSH) betrachtet. D.h. welche Eigenschaften Kreditnehmer in den jeweiligen Segmenten erfüllen müssen, dass ihre Aktivitäten als nachhaltig bzw. als nicht umweltschädlich angesehen werden. Auf Basis dieser Information kann für ein Segment, welches stark von einem Anstieg des CO2-Preises betroffen ist, noch einmal auf Kundenebene eine weitere Abstufung vorgenommen werden. Hier kann definiert werden, dass Kreditnehmer, welche bspw. die „do no significant harm“ Kriterien erfüllen, geringer von einem CO2-Preisanstieg betroffen sein könnten als andere Kreditnehmer. Somit kann auf Basis dieser Einstufung die Höhe der Veränderung von Ratings oder der Ausfallwahrscheinlichkeit in einem Segment noch einmal unterschieden werden.

Dieses Vorgehen, ist zwar in Summe am Aufwändigsten, führt jedoch, sollten alle Daten vorliegen, zu den spezifischsten Stressszenarien, welche wahrscheinlich auch die geringsten Kapitaleffekte vorweisen.

Basierend auf den in Abbildung 3 dargestellten Shifts würde dies unter Berücksichtigung der Option b) sowie der Überprüfung der „do no significant harm“-Fragestellung für das Beispielportfolio zu folgenden Effekten führen:

Tabelle 5: Beispielportfolio im Stress auf Segment+-Ebene

Es wird die Annahme getroffen, dass die Shifts der PDs in den einzelnen Segmenten zunächst identisch zu den Shifts, welche auf der Segment-Ebene festgelegt wurden, sind. Sollte für Kreditnehmer jedoch die „do no significant harm“-Fragestellung positiv beantwortet werden, wird die Annahme getroffen, dass dies zu einer Reduzierung der PD-Shifts um 2,5 Prozentpunkte führt. Dies trifft alle Kreditnehmer mit Ausnahme von Kreditnehmer 2. Auf Basis diese sehr granularen Vorgehens, lässt sich der Expected Loss im Stressfall noch spezifischer für die einzelne Kreditnehmer in dem Beispielportfolio betrachten. Dies geht mit einer Reduzierung des Expected Loss in dem Stressszenario auf 550.000 Euro einher.

Exkurs: Modellbasierte Bestimmung von PDs unter Berücksichtigung des CO2-Preises

Zur Vereinfachung wurden in der bisherigen Abhandlung pauschale Verschiebungen der PDs verwendet. Eine komplexere, modelbasierte Herleitung von PD-Verschiebungen im Kontext von ESG-Risiken kann durch eine Anpassung des Merton-Framework und Verwendung des sog. KMV-Modell mit angepasster Distanz zum Ausfall modelliert werden. Im Merton Modell wird das Kreditrisiko einer Firma neu bewertet, indem der Vermögenswert der Firma als stochastischer Prozess modelliert wird. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Modells ist die Anwendung einer universellen CO2-Steuer, die unabhängig von Sektor oder Land ausschließlich auf Basis der Emissionswerte berechnet wird. Angepasste Ausfallwahrscheinlichkeiten werden daher auf Firmenebene berechnet, indem der Vermögenswert jeder Firma im Rahmen eines Merton-Frameworks als stochastischer Prozess modelliert wird. Insbesondere wird angenommen, dass Übergangsszenarien die Vermögenswerte einer Firma direkt beeinflussen. Das Ergebnis sind neue, klimabereinigte PDs, die die Auswirkungen von ESG-Risiken auf die Kreditwürdigkeit der Firmen reflektieren. Dieser Ansatz ermöglicht es, die direkten finanziellen Auswirkungen von Emissionen und CO2-Preisen auf die Wahrscheinlichkeit eines Kreditausfalls zu quantifizieren. Der verwendete Ansatz aus dem Merton Modell kann auf das KMV-Modell übertragen werden, indem klimabereinigte Vermögenswerte für die Berechnung herangezogen werden. Dabei wird die Distanz zum Ausfall unter Berücksichtigung der klimabereinigten Vermögenswerte und Verbindlichkeiten der Firma neuberechnet, was zur Bestimmung der angepassten Distanz zum Ausfall (DD*) führt. Diese angepasste Distanz wird anschließend in eine klimabereinigte erwartete Ausfallfrequenz (Expected Default Frequency, EDF) umgewandelt. Indem man die DD* in die EDF übersetzt, erhält man eine verfeinerte und präzisere Einschätzung der Ausfallwahrscheinlichkeiten, die die Auswirkungen von ESG-Faktoren berücksichtigt. Beide Modelle, das Merton-Framework und das KMV-Modell, bieten komplementäre Perspektiven und tragen zu einer robusteren und umfassenderen Bewertung der Ausfallwahrscheinlichkeiten unter verschiedenen ESG-Szenarien bei. Sie ermöglichen es Finanzinstituten, die potenziellen finanziellen Auswirkungen von Umweltrisiken besser zu verstehen und in ihre Risikomanagement- und Entscheidungsprozesse zu integrieren.[10]

Abschließende Darstellung

Mit den von der NGFS veröffentlichten Szenarien wird den Instituten ein mächtiges Tool an die Hand gegeben, welches die Grundlage für ein angemessenes Stresstesting im Bereich ESG bildet. Grundsätzlich obliegt es den Instituten jedoch die für sie relevanten Parameter aus den veröffentlichten Daten zu identifizieren und institutsspezifisch angemessene Stressszenarien zu entwickeln. Eine Hilfe kann hierbei das dargestellte Vorgehensmodell sein, welches auf bestehenden Informationen innerhalb der Institute aufsetzt und eine strukturierte und jederzeitig nachvollziehbare Herleitung von den Wirkungsketten in den ausgewählten Szenarien zulässt.

Finbridge ist Ihr kompetenter Partner mit langjähriger und umfassender Erfahrung in den Bereichen aufsichtliche Säule 1 und Säule 2 sowie Stresstesting. Unsere Experten verfügen über tiefgehendes Wissen im Aufsichtsrecht und Risikomanagement, was uns in die Lage versetzt, maßgeschneiderte Lösungen für Ihre Herausforderungen zu entwickeln. Darüber hinaus haben wir erfolgreich Projekte im Bereich Nachhaltigkeit und ESG umgesetzt, wodurch wir Ihnen fundierte Beratung und Unterstützung bei der Integration von ESG-Aspekten in Ihr Stresstesting und Risikomanagement bieten können.

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Autoren: Dr. Ingeborg Keller, Martin Richthofen, Stefan Scheutzow, Sven Warnecke

Quellen und Fußnoten:


[1] Siehe hierzu Textziffer (Tz.) 8 Abschnitt 3.2 / Tz. 28 Abschnitt 3.6 der Konsultationsfassung der EBA-Leitlinien zum Management von ESG-Risiken.

[2] Tz. 30 ff. der Konsultationsfassung der EBA-Leitlinien.

[3] Tz. 34 ff. der Konsultationsfassung der EBA-Leitlinien.

[4] Tz. 39 der Konsultationsfassung der EBA-Leitlinien.

[5] Für weiterführende Informationen siehe Homepage des NGFS https://www.ngfs.net/en.

[6] Für Details siehe die technische Dokumentation; abrufbar unter https://www.ngfs.net/sites/default/files/media/2024/01/16/ngfs_scenarios_technical_documentation_phase_iv_2023.pdf.

[7] Weitere Informationen zu den Modellen können ebenfalls der technischen Dokumentation entnommen werden.

[8] Weitere Informationen zu dem Wirkmechanismus finden sich unter anderem hier https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scpwps/ecb.wp2654~9a537f810a.en.pdf.

[9] https://finance.ec.europa.eu/document/download/329ca214-8dbd-49c2-8cc4-1aa52301d66d_en?filename=200309-sustainable-finance-teg-final-report-taxonomy-annexes_en.pdf.
[10] https://www.ecb.europa.eu/pub/pdf/scpwps/ecb.wp2654~9a537f810a.en.pdf.


 

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